Surplusrealität in der Einzeltherapie

Inhaltsverzeichnis

Teil A
Theorie und Konzepte

1 Ursprung und Anfänge

Jacob Levy Moreno liebte es, sich im Sommer in den weitläufigen Parks von Wien aufzuhalten. Er spielte mit den Kindern, die sich dort aufhielten. Das Spiel der Kinder ist die Wurzel, die eigentliche Inspiration des Psychodramas. Das unverbildete, natürliche Verhalten des Kindes ist das Modell der Gesundheit im Verständnis des Psychodramas: Spontaneität, Kreativität und Kontakt miteinander. Gefühle und Schmerzen werden ausgedrückt, die Probleme, die Gedanken, die die Kinder beschäftigen, werden ausgespielt in selbstgeschaffenen Geschichten und in Dramen. Bekannte Geschichten werden neu erzählt, spontan übernehmen die Kinder die Rollen, die ihnen zusagen.

Jacob Levy Moreno begann, mit Kindern und später mit Menschen aller Alterstufen und sozialen Schichten Spiele zu spielen, um ein neues Verständnis von Theater zu entwickeln. Ihn interessierte nicht das kunstvolle Nachspiel altbekannter Dramen, ihn interessierten die Geschichten der einfachen Menschen. Er wollte die Menschen dazu bringen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und diese schließlich selbst zu spielen. Durch das Spielen ihrer eigenen Geschichte erfinden sie ein neues Ende, eine neue Geschichte für sich selbst, für ihr Leben. So entstand Psychodrama.

Wie funktioniert dieses Ausspiel der eigenen Geschichte? Derjenige, der seine Geschichte spielen will, wird zum sog. Protagonisten. Das Wort Protagonist geht zurück auf das lateinische Wort "protagere", das heißt: vorantragen. Für jeden Protagonisten gibt es einen Leiter. Der Leiter motiviert den Protagonisten, erwärmt ihn, seine Geschichte zu erzählen und den auftretenden Rollen eine Gestalt zu geben. Alle Rollen auf der Bühne, die dazu dienen, das Ich des Protagonisten zu erweitern, zu verstärken oder zu spiegeln, sind sog. Hilfs-Iche. Sie haben eine helfende und unterstützende Funktion. Alle Hilfsich-Rollen entstammen der subjektiven Wahrheit des Protagonisten. Den hauptsächlichen Gegenspieler, den Konfliktpartner des Protagonisten, nennt man den Antagonisten.

Im Psychodrama ist es nicht nur möglich, auszuspielen, was gewesen ist, sondern auch das, was nicht gewesen ist, aber hätte sein können. Das, was man sich gewünscht hätte. Das Märchen kann ein neues Ende bekommen. Die böse Hexe wird zur guten Hexe. Die Rache kann gelingen. Die Aussprache, die Versöhnung wird möglich.

Im Psychodrama betreten wir eine magische Welt, die Welt des Märchens, des Theaters. Hier kann wünschen noch helfen. Wir wünschen uns einfach, stark und schön zu sein. Dann werden wir es. In uns tragen wir alle, in einer Art kollektivem Unbewußten das Wissen darum, wie es "richtig" oder "gut" wäre. Für uns und für andere. Deshalb können alle Rollen genommen und gespielt werden, die guten wie auch die bösen.

Natürlich ist diese Welt voll von Bösem. Wenn wir die Geschichte eines Menschen auf die Bühne bringen, dann muß auch das Böse, das Grausame dargestellt werden. Das Gute wie das Böse muß sich ausdrücken können. Destruktiv wird nur das Unausgedrückte, das Verdrängte, Verleugnete.

2 Moreno's Surplus Begriff

Surplus Realität war die ursprünglichste Quelle der Inspiration für Jakob Levy Moreno. Er benutzte das Wort Surplus, um eine Extra-Realität zu beschreiben, welche die nicht berührbaren, die unsichtbaren Dimensionen, die intra- und extrapsychischen Aspekte beinhaltet.

Jakob Levy Moreno sagte:

"Als ich diesen Begriff prägte, war ich von Marx's Konzept des Mehrwerts beeinflußt. Der Mehrwert ist der Teil des Verdienstes eines Arbeiters, welcher ihm von dem kapitalistischen Arbeitgeber gestohlen wird. Surplus Realität ist jedoch im Gegenteil nicht der Verlust, sondern die Bereicherung von Realität durch die Investition und die ausgedehnte Verwendung von Imagination."
(Jakob Levy Moreno, 1965)

Dadurch ist nach Morenos Konzept Surplus Realität ein Modus der Erfahrung, welcher über die Realität hinausreicht. Er sagte:

"Es ist ein häufiges Mißverständnis, Psychodrama bestehe nur aus dem Ausspiel von Episoden aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche erfahren und verstanden werden innerhalb des Gesamtrahmens der Realität. Es gibt im Psychodrama einen Modus der Erfahrung, welcher über die Realität hinausreicht, welche dem Protagonisten eine neue und erweiterte Erfahrung der Realität ermöglicht."
(Jakob Levy Moreno, 1965)

Es gibt eine andere, innere Realität, die beinhaltet, was von der äußeren Realität übrig bleibt. Es ist so, daß die äußere Welt und die äußere Realität uns beeinflußt haben, aber wir alle haben unsere persönliche Welt, in der wir unsere eigene psychische Realität erhalten. Während eine Szene, eine Situation im Leben der äußeren Realität vieleicht Tage andauert, bleibt im Inneren nur ein Lächeln, der Eindruck einer Rose, oder eine flüchtige Empfindung. Diese innere Realität ist das, was übrig geblieben ist, von der äußeren Realität: das, was jemand in seinem Herzen bewahrt. Moreno beschreibt persönliche Wahrheit mit einem Beispiel: Eine Person geht in eine Kirche und erlebt bewußt die ganze Atmosphäre und das Pathos in der äußeren Realität, doch die innere Realität ist das, was er auf einer sehr persönlichen Ebene in dieser Kirche erlebt, auf welche Symbole er reagiert, welche Inschriften er liest, usw. Die persönliche innere Wahrheit, die jemand von außen übernimmt und in sich selbst einverleibt, sie ist der Kern der Authentizität, der die innere Wahrheit bildet.

Die Wahrheit der Psychodrama Surplus Realität ist eine sehr persönliche, subjektive Darlegung. Für die Therapie bedeutet das, zu entdecken und aufzudecken, was für den Protagonisten in seiner eigenen, subjektiv phänomenalen Welt im Hier und Jetzt wahr ist, das Finden der eigenen persönlichen Wahrheit und das eigene Ich zu bestätigen.