Surplusrealität in der Einzeltherapie

Inhaltsverzeichnis

6 Das Denken im Surplus

6.1 Das Surplus-Bild

In der Surplus Realität entdecken wir Möglichkeiten der Erwärmung und der Findung von Bildern durch die spontanen Assoziationen der Anwesenden für den Protagonisten. Hier finden sich Stimmigkeiten, die im Rahmen der magischen Welt des Psychodramas einen tiefen Sinn geben. Diese Stimmigkeiten, mehr der Welt des Unbewußten und des Ko-Unbewußten zuzuordnen, sind ebenfalls Aspekte des Surplus.

Surplus bedeutet einmal: wir verlassen die Alltagsrealität durch die Schaffung eines besonderen Rahmens. Die zweite Bedeutung ist die besondere Wirksamkeit der magischen Welt der Bühne. Die dritte Bedeutung ist die Steigerung der Bedeutung von Handlung und Worten durch den Surplus-Charakter der Bühne.

Surplus umschreibt die magische Welt des Psychodramas. Es bedeutet, daß Vorgestelltes einen Realitätscharakter bekommt. Wenn wir einen Klienten in eine Spielsituation bringen, dann erschaffen wir bereits eine Surplus-Situation. Eine Gesprächssituation wird nicht mehr beschrieben, sie wird dargestellt. Obwohl die Situation selbst Teil der Vergangenheit des Protagonisten ist, tun wir so, als sei sie im Hier und Jetzt. Das Spiel im Psychodrama ist immer in der Gegenwart. Damit wird bereits die Alltagsrealität verlassen. Im zweiten Schritt werden Stellvertreter für Personen zugelassen. Der Protagonist reagiert auf einen Stellvertreter, wie auf die Person, die er vertritt. Im nächsten Schritt werden sogar Gegenstände als Stellvertreter zugelassen: ein leerer Stuhl vertritt eine Person.

Seit Mitte der achziger Jahre wurde dem Begriff Surplus eine weitere Dimension hinzugefügt. In der Oberstufenausbildung am Institut für Psychodrama Dr. Ella Mae Shearon wurden neue Surplus-Techniken für die Einzel- und Gruppentherapie entwickelt. Eine wichtige Anwendung ist der Einsatz aller möglichen Arten von Bildern. Der Protagonist wird aufgefordert, eine Verbindung zwischen sich und z.B. einem Foto, einem impressionistischen oder surrealistischen Bild zu schaffen. In der Surplus Realität werden diese Assoziationen dann ausgespielt. Das Ausspiel führt zu einem tieferen Verständnis des Selbst.

Aus einer Geste, aus der Benennung einer Farbe, eines Tieres werden psychodramatische Wahrheiten aufgedeckt, die zu neuen Formen des Psychodramas führen. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff Surplus benutzt, um den Zusammenhang zwischen dem Charakter und der Geschichte eines Protagonisten und seiner Wahl für eine bestimmte Farbe, eine bestimmte historische Rolle oder ähnliches zu beschreiben.

In einem Surplus-Psychodrama entwickeln alle am Prozeß Beteiligten, der Protagonist, der Leiter, und die zuschauende Gruppe, in einem ko-unbewußten Prozeß "surreale" Bilder in ihrer Vorstellung, welche dann auf die verschiedenste Weise ausgespielt werden. Alle anwesenden Personen produzieren die in diesem ko-unbewußten Prozeß ständig Bilder, welche den therapeutischen Prozeß vorantragen.

6.2 Die Darstellung in Bildern und Geschichten

Wenn wir uns als Psychodramatiker mit der Surplus-Realität auseinandersetzen, gewinnen wir eine neue und erweiterte Sichtweise des Protagonisten. Es ist wie ein Training, ein Maler oder ein Regisseur oder ein Schriftsteller zu sein. Man beginnt, immer nebenbei Assoziationen zu entwickeln, sich Bilder vorzustellen, man läßt sich Geschichten einfallen.

Psychodrama ist Darstellung. Deshalb ist das Wichtigste für den Leiter, daß er Bilder entwickelt. Er fragt den Protagonisten im Interview nach seiner Geschichte, und während der Protagonist erzählt, muß der Leiter sich Bilder einfallen lassen, so wie ein Drehbuchautor eine erzählte Geschichte in ansprechende und packende Bilder umsetzen muß. Dazu gehört Begabung, Training und Erfahrung darin, was im Psychodrama "geht", und was nicht. Er braucht eine gute Kenntnis der Standardtechniken. Beispielsweise schildert ein Protagonist eine Situation mit seiner Frau beim Frühstück, er liest die Zeitung, sie telefoniert. Dann streiten sie sich.

Ohne ein bildhaftes Denken mag man als Leiter versucht sein, auf den Streit einzugehen und Argument gegen Argument durchzuspielen, und fataler noch, versuchen herauszufinden, wer recht hat. Denkt man bildhaft, sieht man dieses Paar vor sich, wie sie telefoniert und er liest.

  • Wie sitzen diese Menschen?
  • Können sie einander ansehen?
  • Welche Zeitung liest er?
  • Wie ist der Tisch gedeckt, liebevoll oder nachlässig?
  • Wo sitzen sie, im Eßzimmer, im Schlafzimmer, in der Küche?

Alles sind Details, die viel verraten, viel mitteilen. Man würde als Leiter im Surplus dieses Bild genau aufbauen und wahrscheinlich würde man dann in diesem Bild die Kommunikationslosigkeit dieser Menschen spüren, wenn dieses Bild gesehen wird. Man würde sich weiter fragen, wieso redet die Frau über das Telefon mit anderen Menschen und nicht mit ihrem Mann? Mit wem telefoniert sie eigentlich? Man könnte als Leiter in der Surplus-Realität dem Telefon eine Stimme leihen und es über diese Ehe ausfragen.

Wichtig ist also, daß der Leiter immer ein bildhaftes Denken pflegt.

6.3 Märchen

Märchen nehmen im Psychodrama eine besondere Stellung ein. Sie sind sozusagen über Jahrhunderte destillierte Psychodramen. Sie sind für uns enorm wertvoll. Es gibt zwei grundsätzliche Wege: man fragt sich als Leiter, welche Märchen, welche Geschichten, welche Theaterstücke, welche Filme fallen mir ein, wenn ich meinen Protagonisten so anschaue? Man kann sich mit dem Protagonisten über solche Assoziationen unterhalten und daraus können sich sehr spannende Bilder entwickeln. Auch wenn eine Protagonistin es z.B. heftig abstreitet, irgendwie mit der Abschiedszene aus Casablanca etwas zu tun zu haben, kann man sich als Leiter fragen, wieso streitet sie es so entschieden ab? Oft ist die Wahrheit in der Surplus-Realität invers. Steckt man die Protagonistin trotzdem in diese Szene, stellen wir fest, die geheime Wahrheit ist, daß sie genau diese Romantik nicht mag, weil es eine noch unverarbeitete Geschichte in ihrem Leben gibt.

Die andere Möglichkeit ist, den Protagonisten nach den Märchen zu fragen, mit denen er sich im Moment oder während seiner Kindheit verbunden gefühlt hat. Das Ausspiel der Szenen bietet viele Möglichkeiten für Surplus-Techniken. Interessant sind natürlich auch die Märchen, die der Protagonist nicht mehr so genau erinnert. Der Leiter fragt sich dann, welche Szenen, welche Verwicklungen werden hier vergessen? Er läßt dann den Protagonisten die Geschichte frei weiterdichten. Dies läßt sich besonders gut in der Einzeltherapie anwenden. Der Protagonist schreibt dann als Hausaufgabe das Ende des Märchens, das man gemeinsam begonnen hat, in der Sitzung zu erzählen. Hat man phantasiebegabte Patienten, kann dies alles auch in der Vorstellung stattfinden, man braucht nicht unbedingt in das Ausspiel auf der Bühne zu gehen.

6.4 Stehengebliebene Bilder

Stehengebliebene Bilder sind ein weiterer Aspekt der Surplus Realität. Das Stehengebliebene Bild ist das (innere) Bild, welches der Protagonist, der Leiter, oder die Gruppenmitglieder erinnern, wenn über ein vergangenes Psychodrama gesprochen wird. In diesem Bild ist wie in einer Essenz das Thema, das Drama dieses Psychodramas enthalten. Diese Bilder sind wie Szenenfotos im Theater oder Film. Wir können diese Stehengebliebenen Bilder als Einstieg benutzen, um nach einer Unterbrechung ein Thema fortzuführen. Die Stehengebliebenen Bilder sind aber auch geeignet als Schlüssel zum Zugang bei komplexen Themen: Beispielsweise ist ein Klient sehr beeindruckt von einem Film, den er kürzlich gesehen hat. Die Frage nach den Stehengebliebenen Bildern schafft sofort einen Fokus, mit dem man als Leiter weiterarbeiten kann.

6.5 Time-Space-Realität

Das Psychodrama besitzt eine eigene Realität: eine Realität, in der das alltägliche Verständnis von Zeit und Raum aufgehoben ist. Wir haben dafür einen eigenen Begriff geprägt: Time-Space-Realität. Im Psychodrama hat die Zeit eine eigene Realität. Zeitabläufe können nicht nur beliebig beschleunigt oder verlangsamt werden, wir können auch Sprünge machen, vorwärts und rückwärts durch die Zeit. Einige Minuten werden genau durchgenommen, in Zeitlupe Nuance für Nuance untersucht; in einem anderen Zusammenhang werden Jahre gerafft, Lebensphasen übersprungen. Wir können anderer Jahrhunderte besuchen, zukünftige und vergangene, und in diesen unser Spiel plazieren. Dies können Zeiten sein, die es nie gegeben hat, außer in unserer für diese Stunden gemeinsam geteilten Phantasie.

Gleichermaßen ist der Raum veränderlich, die Orte werden durch die Wahrnehmung des Protagonisten erschaffen, gestalten sich um ein paar Stühle und Matratzen. Menschen werden zu Wänden und Türen, Stühle zu Menschen, alles wird ggf. zu Tieren und Pflanzen. Gegenstände und Körperteile werden von Menschen verkörpert und können so sprechen und handeln. In dieser Space-Time-Realität ist alles möglich, was wir uns gemeinsam vorstellen können und doch ist alles keineswegs beliebig. Alles folgt der Innerlichkeit des Protagonisten und gehorcht dem Kommando des Leiters.

6.6 Wahrnehmung der Körpersprache

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Wahrnehmung der Körpersprache des Protagonisten. Hier ist einfach alles wichtig: Die Haltung, der Tonfall, die Gesichtsfarbe, sogar der Körpergeruch, alles trägt Information. Hier kann dazu keine Anleitung gegeben werden. Der Leiter übt die Kunst, insgeheim bzw. möglichst unauffällig, sich mit in die Körperhaltung des Protagonisten hineinzubegeben, um das Körpergefühl des Protagonisten zu spüren. Wie lebt es sich in diesem Körper? Was kann man sehen, welche Bewegungen sind überhaupt möglich? Interessant ist auch die Frage, welche Körperteile der Protagonist vor dem Antagonisten oder dem Leiter verbirgt. Wir alle haben eine Alltags-Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn eine Frau ihr Gesicht hinter langen Haaren verbirgt. Wie aber fühlt es sich an, so zu sein?

Der Leiter macht real oder in seiner Vorstellung einen Rollentausch. Er fühlt sich ein, macht die Wahrnehmungsrealität des Protagonisten zu seiner eigenen. übt man dies, stellt man manchmal überrascht fest, das Protagonisten manche Wahrnehmungen in ihrem Körper ausblenden. Manchmal sind bestimmte Körperhaltungen, die ein Protagonist einnimmt, sehr anstrengend, geradezu schmerzhaft. Trotzdem verharren die Protagonisten länger in dieser Haltung. Der Leiter wird darauf aufmerksam werden, wenn er sich einfühlt und dann diese Fehlhaltung zum Thema machen. Er mag dann untersuchen wollen, welche Gefühle durch diese Körperhaltung abgeschnitten werden, welche Spannung, welche Aggression hier ihren geheimen Ausdruck findet. Welcher Körperimpuls wird durch diese Körperhaltung unmöglich oder abgebremst? Welcher Ausdruck kommt zutage, wenn man diese Körperhaltung wie eine Skulptur auffasst, vorsichtig die wichtigsten Aspekte herausarbeitet, verstärkt, maximiert?

Der Leiter folgt dem Protagonisten wie sein Schatten. Es geht im Psychodrama allein um die Realität des Protagonisten. Der Leiter benutzt seine eigene Körperwahrnehmung wie einen Resonanzboden, um seine Einfühlung für den Protagonisten zu verstärken.

Ziel ist die Externalisierung der Innenwelt des Protagonisten. Psychodrama ist das Drama der Seele. Die Inspiration kommt gleichermaßen vom Protagonisten wie vom Leiter: Autor und Regisseur erschaffen gemeinsam die Darstellung. Moreno Konzept von Katharsis im schöpferischen Sinne bedeutet: der Protagonist ist der Schöpfer seines Skripts, der Autor seines Skripts und der Darsteller seines Skripts.